Über die Erfahrung der moralischen Verwirrung
Im ersten Kapitel seines Buches „Schulden: Die ersten 5000 Jahre“ erledigt der Autor David Graeber einen Rundumschlag. Ausgangspunkt seiner Erzählung ist ein Gespräch auf einer Gartenparty in London. Dort unterhält er sich mit einer jungen Anwältin, die wie es zunächst scheint „auf der guten Seite“ steht. Das Gespräch dreht sich zunächst um den Internationalen Währungsfonds, nach kurzer Zeit fällt dem Ich-Erzähler Graeber allerdings auf, dass es einen grundsätzlichen Meinungsunterschied gibt. Auslöser ist ihre Äußerung: „Man muss seine Schulden zurückzahlen“ (u.a. S. 9).
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Diesen Konflikt nutzt Graeber als Einstieg für einen relativ breiten historischen Abriss über Schulden. Das Ganze hat für mich als „Türöffner“ gut funktioniert, da es solche Situationen immer wieder gibt. Auf einer relativ ungezwungenen Party geht es auf einmal um die „schweren“ Themen der Zeit. Wer hat denn noch nicht „angeduselt“ auf einer Party über Ungerechtigkeit oder gar über Religion diskutiert? Jedenfalls hat es doch bestimmt bei jedem Mal den Moment gegeben, als man dachte: „Halt, ich glaub hier muss ich wohl erst mal ganz weit ausholen…“.
Im Weiteren versteht es der Autor, relativ komplexe Sachverhalte verständlich zu erklären. Spätestens nachdem er die Auswirkungen des Zinseszinseffektes auf die Schulden Afrikas erklärt, hat er mich. Man stellt sich die Frage, ob man den Begriff Schulden und was dahinter steckt bisher zu eng gesehen hat. Unter anderem am Beispiel Madagaskars macht er klar, dass Schuldenpolitik auch viel mit Macht zu tun hat.Wer siegreich einen Konflikt für sich entscheiden kann, diktiert im Anschluss auch die Bedingungen. Hier bringt er unter anderem auch das Beispiel der Reparationszahlungen nach dem ersten Weltkrieg an. Die Essenz aus all dem wird in folgender Textstelle besonders deutlich:
Seit vielen tausend Jahren wird der Konflikt zwischen Reichen und Armen überwiegend in Form von Konflikten zwischen Gläubigern und Schuldnern ausgetragen – mit Argumenten über Recht und Unrecht von Zinszahlungen, von Schuldenknechtschaft, Schuldenerlass, Enteignung, Rückgabe, der Konfiszierung von Schafen oder Weinbergen oder dem Verkauf von Kindern in die Sklaverei. (S.14)
Am Ende des ersten Kapitels stellt er dann schlussendlich seine Fragestellung auf, die für die weiteren Kapitel zentral sein soll:
Und damit kommen wir zur zentralen Fragestellung dieses Buches: Was heißt es genau, zu sagen, unser Gefühl für Moral und Gerechtigkeit werde auf die Sprache eines Geschäfts reduziert? Was bedeutet es, wenn wir moralische Beziehungen auf Schulden reduzieren? Was ändert sich, wenn das eine zum anderen wird? Und wie sprechen wir darüber, wenn unsere Sprache so sehr vom Markt bestimmt wurde? (S.19)
Spätestens hier wird deutlich, dass Graeber zwar einen einfachen Schreibstil pflegt, aber durchaus wissenschaftliche Kriterien erfüllt wissen will. Das äußert sich durch die Fragestellung und seine These am Ende des ersten Kapitels. Außerdem gibt es immer wieder Quellenverweise, die durch Fußnoten gekennzeichnet sind.
Der Mythos vom Tauschhandel
Im zweiten Kapitel versucht Graeber einen Teil der Wirtschaftstheorie von Adam Smith zu wiederlegen. Konkret geht es um die Annahme von Smith, dass Geldsystemen immer Tauschsysteme vorausgehen. Graeber arbeitet heraus, dass Geld- und Tauschsysteme durchaus parallel existieren können. Außerdem gibt er sehr umfangreiche Beispiele für die Eigenheiten des Tauschhandels. Unter anderem wird über einen rituellen Tauschhandel der Gunwiggu (Australien) namens dzamalag berichtet. Dem Problem der doppelten Koinzidenz setzt er eine pragmatische Lösung entgegen –
In allen Szenarien verschwindet das Problem der >>doppelten Koinzidenz der Wünsche<<, das die wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbücher immer wieder beschwören, wie von selbst. Henry hat womöglich nichts von dem, was Joshua gerade jetzt haben will. Aber die beiden sind Nachbarn, und da ist es offensichtlich nur eine Frage der Zeit, bis der Fall eintreten wird. (S. 42)
Viel wichtiger als Geld- und Tauschhandel seien auch schon vor über 3.000 Jahren Kreditsysteme gewesen (Beispiel: Sumerer). Die Intention des Autors liegt meiner Meinung darin, die tiefe Verwurzelung von Schuld(en)systemen historisch zu belegen.
Ursprüngliche Schulden
Im dritten Kapitel geht David Graeber zunächst auf weitere Theorien ein. Unter anderem auch auf die Kredittheorie von Mitchell-Innes und den Keynesianismus. Er erklärt unter anderem auch, dass Geld eigentlich nur ein Schuldschein ist, der immer weiter gegeben wird. Außerdem stellt er die These auf, dass Geld und Währungssysteme immer durch Herrschende installiert wurden.
Gesellschaften ohne Staat sind in der Regel auch Gesellschaften ohne Märkte. (S. 56)
Die Frage die sich hier am Ende stellt ist, wer eigentlich das Recht hat die Urschulden (göttlich) zu verlangen?